So lässt sich der Ohrwurm erklären
Haben Sie auch manchmal einen Ohrwurm? Melodiöse Endlosschleifen im Kopf erleben 99 Prozent aller Menschen. Inzwischen lässt sich auch erklären, warum.
In Spanien hört er auf den klingenden Namen „canción pegazida“, in England heißt er schlicht „sticky song“ und in Schweden „Jag har en låg på huvdet.“ Im Grunde meinen alle dasselbe – den Ohrwurm, also eine einmal gehörte Melodie, die im Kopf dann plötzlich als Endlosschleife wieder auftaucht und einen schier in den Wahnsinn treiben kann.
Apropos gaga. Der Welthit „Pokerface“ der gleichnamigen Lady aus New York ist beispielsweise dieser Spezies zuzuordnen. Es muss aber nicht unbedingt international sein. Wer Pech hat, hört stundenlang Heino, Dieter Bohlen oder Marianne und Michael – und weiß oft nicht mal warum.
99 Prozent der Menschen haben dieses teils lästige Phänomen im Hirn schon erlebt. Aber die wenigsten können erklären, was da in unserem Hirn passiert. Zumindest weiß man sich in guter Gesellschaft. Der Komponist Robert Schumann soll unter Ohrwürmern gelitten haben, ebenso der amerikanische Popbarde Neil Diamond.
Wer müde ist, wird leichter Opfer
Aber, was ist nun ein Ohrwurm? Eine vorsichtige Annäherung. Der Duden definiert ihn als „Lied, Schlager, Hit, der sehr eingängig, einprägsam ist“, abgeleitet von den gleichnamigen Insekten, die nach volkstümlicher Vorstellung „gern in Ohren“ kriechen. Aber das kann nicht alles sein.
„Nein, ist es tatsächlich nicht“, bestätigt auch Professor Eckart Altenmüller gegenüber unserer Zeitung. Allerdings gebe es auch noch keine perfekte Erklärung. „Das Phänomen ist methodisch sehr kompliziert zu erforschen, deshalb kann man nur auf wenige Untersuchungen zurückgreifen“, sagt Eckart Altenmüller, Neurophysiologe und Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover unserer Zeitung. Doch eines stehe fest: Auf Kommando stelle sich ein Ohrwurm ungefähr so selten ein wie ein Schluckauf.
Der Ohrwurm: Eine Art Dauerzyklus
Der gebürtige Schwabe gilt als einer der wenigen deutschen Experten auf diesem Fachgebiet und kann inzwischen aufgrund eigener Versuche auch halbwegs gesichert erklären, was beim Ohrwurm im Kopf abläuft. Es bilde sich eine Art Dauerzyklus zwischen zwei miteinander kommunizierenden Hirnregionen, sagt Altenmüller. Der aber sei selbst mit einem Hirnscanner schwierig und nicht genau nachzuweisen.
Einer Studie zufolge ist zudem beim Hören von Musik ein bestimmter Teil des Gehirns aktiv. Und er ist es auch dann, wenn wir uns Musik nur vorstellen.So gelangen also Melodien völlig unerwartet ins Ohr, selbst wenn wir sie zuvor monatelang nicht gehört haben.
Selten, aber nicht ausgeschlossen, ist der pathologische Ohrwurm. Drei Varianten beschreibt Altenmüller: Einmal eine krankhafte Überreizung des Schläfenlappens, selten trete er bei Schizophrenie auf (das trifft möglicherweise auf Robert Schumann im Endstadium einer Syphilis), schon häufiger bei Demenz, Tauben oder Gehörlosen. „Dann wird das Phänomen zum schweren Problem.“
Für alle anderen Menschen gelten folgende Regeln: Ohrwürmer treten nur selten auf, wenn man geistig und seelisch angespannt ist. Vor allem im entspannten und müden Zustand oder nach Drogengenuss sei man empfänglich für Ohrwürmer, behauptet Altenmüller.
Und auch ein Phantombild des Ohrwurms kann der Neurologe und Musiker skizzieren: Einfache Melodie, mittleres Tempo, angenehme Singhöhe kennzeichnen ihn. Und er trete häufiger bei Frauen und Musikern auf, ergänzt James Kellaris von der Universität von Cincinnati. Lieder mit Text hingen eher im Kopf als Instrumentalstücke, selten seien die Melodien länger als 30 Sekunden. Man kann sagen: So wie uns der Duft von Omas Waschmittel in die Kindheit zurückversetzt, erinnert „Live Is Life“ unwillkürlich an Abiturfeiern.
Gedächtnisspuren verlaufen auch umgekehrt
Diese Gedächtnisspuren verlaufen auch umgekehrt. „Es sind Schlüsselreize, die beim Einspeichern des Liedes unbewusst mit abgelegt wurden. Kommt man wieder in die gleiche Situation, taucht auch die Melodie ganz unvermittelt wieder auf“, sagt Altenmüller. Und noch etwas scheint auffällig: Man behält eher Songs oder Melodiebruchstücke im Ohr, die man mag, als solche, die einen nerven. Dass man mit einem Ohrwurm trotzdem meistens schlechte Erfahrungen verbindet, liegt laut Ira Hyman von der Western Washington Universität an der Tatsache, dass man sie deutlicher wahrnimmt als positive Reize.
Nun aber Schluss mit den oft quälenden Melodien. Wer von einem Ohrwurm geplagt wird, dem rät Wissenschaftler Altenmüller, sich auf einen anderen Hit zu konzentrieren. Denn, wie gesagt, gerade im Entspannungsmodus öffnen sich für Ohrwürmer Einfallstore wie im Winter für die Grippe. Hyman hat eine andere Empfehlung. Am besten funktionierte bei seinen Versuchspersonen das Lösen von Sudokus. Danach war wieder Ruhe.
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